Von Aalabyss bis Zytomega – was sind deine Pokémon-Karten wert?
Wie wir für die eCommerce-Plattform Lotticards einen Software-gestützten Grading-Service für Pokémon-Sammelkarten entwickelten.
Als 1996 in Japan die ersten Pokémon-Videospiele auf den Markt kamen, ahnte wohl kaum jemand, welcher Hype weltweit um die kleinen Taschenmonster entstehen würde. Fast zeitgleich mit der Veröffentlichung der Spiele in den USA und Europa 1998 und 1999 erschienen eine Animeserie, ein Sammelkartensystem und wenig später sogar ein Kinofilm (mehr als 20 weitere Filme sollten bis 2021 folgen). Plötzlich waren Pikachu und Co. dank cleverer Marketingstrategie allgegenwärtig. Die Videospiele verkauften sich über 200 Millionen Mal und auch das Sammelkartenspiel war extrem angesagt.
Zugegeben, der Pokémon-Boom ging damals an mir vorbei. Vielleicht lag es daran, dass ich mit Trends ohnehin nicht viel anfangen kann, vielleicht gehörte ich auch einfach nicht zur Zielgruppe. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass Pokémon-Karten heute noch so ein großes Ding sind. Dennis, der Geschäftsführer von Lotticards, dem größten deutschen Online-Shop für Pokémon-Karten, hat mich eines Besseren belehrt. Er kam im Herbst 2020 auf Empfehlung einer befreundeten Agentur auf uns zu und erzählte uns von seinem Vorhaben, einen Grading-Service für Pokémon-Karten aufzuziehen. Als Grading bezeichnet man das Bewerten von Sammelkarten anhand fest vorgegebener Kriterien, beispielsweise dem Zustand, der Druckqualität oder der Seltenheit.
Zwar gab es zum damaligen Zeitpunkt bereits Grading-Dienstleister, diese hatten allerdings große Schwachstellen, was Professionalität, Transparenz und Sicherheit betrifft. Wollte man Pokémon-Karten bei einem seriösen Anbieter graden lassen, musste man sie zwangsläufig ins Ausland schicken. Dennis plante daher, sein Karten-Business Lotticards um einen Grading-Service zu erweitern, der neuesten und höchsten Qualitätsstandards entspricht. Unsere Aufgabe war, eine maßgeschneiderte Software dafür zu entwickeln und den gesamten Kauf- und Grading-Prozess zu digitalisieren. Dafür brauchten wir nicht nur technisches Know-how, sondern vor allem jede Menge Gehirnschmalz. Wir mussten lernen, wie Kartensammler zu denken, und sind dabei in eine der verrücktesten Welten abgetaucht, die wir bis dato gesehen haben.
Pokémon-Sammelkarten boomen wie nie zuvor!
Welche Dimensionen der Hype um das Pokemón-Sammelkartenspiel angenommen hat, wurde uns erst klar, als wir uns im Zuge der Projektvorbereitung eingehender damit beschäftigten. Pokémon-Karten werden teilweise gehandelt wie Juwelen und erzielen mitunter ähnliche Preise. Der Markt ist hart umkämpft und wächst permanent. Das hat mehrere Gründe: Zum einen befeuern reichweitenstarke YouTuber das Geschäft, indem sie riesige Kontingente an Karten aufkaufen und Unboxing-Videos dazu online stellen. Zum anderen ist der Handel mit Pokémon-Karten ziemlich lukrativ. Der Wert insbesondere älterer Karten ist mittlerweile so stark gestiegen, dass man sich davon ein Eigenheim kaufen könnte. Mit 375.000 US-Dollar zählt die Pikachu-Illustrator Card beispielsweise zu den teuersten Karten. So viel Geld für ein Stück Karton, auf den ein kleines gelbes Maskottchen gedruckt ist? Das ist Teil eines allgemeinen Trends, dass popkulturell aufgeladene Dinge (Sammelkarten, Filme, Games) historische Sammelobjekte wie Briefmarken oder Porzellan ablösen. Als Folge des Booms wird auch das Grading immer populärer - und wichtiger! Offizielle Grading-Services sollen dabei helfen, eine gewisse Objektivität auf den teils undurchsichtigen Sammelkartenmarkt zu bringen, Preise nachvollziehbar zu machen und den Handel transparenter zu gestalten. Das Grading dient dazu, den Zustandswert einer Karte anhand ihrer Merkmale zu bestimmen, und ist zugleich ein wertsteigernder Prozess. Die Karten werden nicht nur begutachtet, katalogisiert und offiziell erfasst, sondern auch mitsamt Zertifikat in ein Case eingeschweißt. Dadurch sind sie in ihrem Zustand quasi eingefroren.
Ein Google-Sheet als Datengrundlage
Dennis ist ein echter Kartenprofi, kennt seine Community und hat den Bedarf einer professionellen Bewertungsplattform in Deutschland schon lange erkannt. Als er mit uns in Kontakt trat, hatte er bereits präzise Vorstellungen davon, wie ein guter Grading-Service aussehen sollte. Er wusste, welche Anbieter es gibt und was die Schwächen ihrer Systeme waren. Ein wesentlicher Punkt war folgender: Bei keiner der damals bestehenden Grading-Plattformen gab es die Möglichkeit, vorzufiltern. Sammler und Sammlerinnen schickten ihre Karten ein und konnten höchstens in einem Freitextfeld Vermutungen darüber äußern, um welche Exemplare es sich ihrer Meinung nach handelte. Der Service, der die Karten bewertet, konnte bestenfalls hoffen, dass die Einschätzung der Sammelnden in die richtige Richtung geht.
Dennis wünschte sich eine Software, die wie ein datengestützter Assistent funktioniert und mittels Ausschlussverfahren die in Frage kommenden Karten so weit wie möglich eingrenzt. Das Vorfiltern auf User-Seite sollte den Mitarbeitenden von Lotticards die Arbeit erleichtern. Das hieß für uns, im ersten Schritt eine performante Datenbank aufzubauen. Zum damaligen Zeitpunkt gab es mehr als 70.000 Karten. Eine Liste davon stellte uns Dennis als Google-Sheet zur Verfügung. Es war gar nicht so einfach, sich durch den Wust an Daten durchzuarbeiten und die Inhalte in die Datenbank zu importieren. Aber letztlich ist es uns gelungen. Die Datenbank bildet das Fundament für unsere Technik. Sie wird regelmäßig geupdatet, da permanent neue Pokémon-Karten erscheinen, und wächst somit ständig weiter.
Denken wie ein Sammelkartenfan
Im nächsten Schritt setzten wir einen Shopify-Shop auf, um die Produkte von Lottigrading – also deren Dienstleistungen – einzupflegen. Nach dem Kauf eines Produkts, beispielsweise eines Express-Gradings, erhält man eine Bestellnummer. Mit dieser kann man sich auf einer Submission-Seite anmelden und erstellt sich ein Order Kit, indem man auf Basis unserer Datenbank die Karten auswählt, die man zum Graden einsenden möchte.
Den Auswahlprozess technisch abzubilden, stellte uns vor die Herausforderung, die Perspektive eines Pokémon-Sammelkartenfans einnehmen zu müssen. Problematisch war nämlich, dass eine Filterung vom größten zum kleinsten gemeinsamen Nenner nicht funktionierte. Das liegt darin begründet, dass nicht jede Person, die Pokémon-Karten sammelt, Profi auf dem Gebiet ist und alle relevanten Informationen kennt. Während die einen genau wissen, aus welchem Set und welchem Jahr ihre Karten stammen, können andere nur das angeben, was sie auf der Karte sehen, also im besten Fall die Sprache des aufgedruckten Texts und das abgebildete Pokémon benennen.
Wir mussten die Fragen aus einer vollkommen anderen Richtung stellen – und zwar so, dass sie von Erfahrenen und Unerfahrenen gleichermaßen beantwortet werden können. Daraufhin entwickelten wir einen UI-Assistenten, der die Auswahl anhand der Antworten der User oder Userinnen derart eingrenzt, dass sie zum Schluss nur noch aus maximal vier oder fünf Karten die richtige anklicken müssen.
Grading-App mit vielen Talenten
Haben die Sammler oder Sammlerinnen ihre Karten ausgewählt, erhalten sie eine PDF zum Ausdrucken, die sie als Checkliste den Karten anbei legen, und ein Label mit QR-Code, das sie wie ein Retoure-Etikett außen auf das Paket kleben. Auf einer Statusseite im Order Kit können sie den Sendestatus des Pakets und jeden weiteren Schritt im Verarbeitungsprozess bis zum Rückversand live nachverfolgen. Zu diesem Zweck erhält das Order Kit Informationen von der Grading-App, die wir speziell für Lottigrading entwickelt haben. Die Mitarbeitenden scannen bei Ankunft des Pakets den außen angebrachten QR-Code mithilfe der App ein. In selben Moment sieht der Kunde bzw. die Kundin auf der Statusseite, dass das Paket angekommen ist. Auf der Checkliste befindet sich ein zweiter QR-Code, der beim Einscannen den Status „Review“ vermittelt. Bei diesem Schritt überprüfen die Mitarbeitenden, ob der Sammler oder die Sammlerin die eingesendeten Karten korrekt bestimmt hat.
Um Befangenheit auszuschließen, werden die Karten anschließend auf ein Boxensystem verteilt. Dadurch können die Mitarbeitenden nicht nachvollziehen, aus welchem Paket bzw. aus wessen Besitz die Karten stammen, die sie bewerten. Nach dem Grading wird jede einzelne Karte zusammen mit einem Zertifikat in ein Case geschweißt und zurückgeschickt. Die Zertifikate sind mit einem Sicherheitshologramm versehen und können automatisiert über unsere Grading-App gedruckt werden. Da eine einfache PDF als Druckvorlage für diese Zwecke nicht ausgereicht hätte, entschieden wir uns für eine Lösung, bei der der Text koordinatenbasiert gesetzt wird.
Pop-Report zur Verifikation bewerteter Karten
Die Entwicklung der App stellte uns nicht vor unlösbare Aufgaben. Da es sich um eine PWA (Progressive Web App) handelte, brauchte es allerdings ein paar Kniffe, damit die QR-Codes über die Webseite und lokale Kamera eingelesen werden konnten. Am Ende haben wir aber auch das hingekriegt, ohne das Rad neu erfinden zu müssen. Als Tool und Schnittstelle zwischen Service- und Kundenseite kommt der App im gesamten System eine große Bedeutung zu.
Ist das Grading abgeschlossen, liefert unsere App die aktualisierten Daten zurück ans Order Kit, um daraus einen Pop-Report zu generieren. Das ist eine öffentlich einsehbare Übersichtsseite, die auflistet, wie viele und welche Karten mit welchen Noten von Lottigrading bewertet wurden. Auf jedem Zertifikat befindet sich ein QR-Code, über den der Kunde oder die Kundin den dazugehörigen Eintrag im Pop-Report aufrufen und die Daten überprüfen kann. Ebenso ist es möglich, nach Karten zu suchen, falls man sich für eine bestimmtes Exemplar interessiert.
Prozesse digitalisieren? Können wir!
Das Projekt Lottigrading ist ein Hands-on-Beispiel dafür, dass wir Digitalisierung können. Wir haben Lösungen für schlecht laufende Offline-Prozesse entwickelt, die Kunden und Kundinnen eine angenehme User-Experience bieten und Mitarbeitende von Lottigrading in ihrem Workflow unterstützen. Es waren weniger besondere Technologien, sondern vielmehr Köpfchen und intelligentes Anwenden gefragt. Unsere App und Datenbank können auf verschiedene Kartentypen angepasst werden. In Planung sind bereits Yu-Gi-Oh- und Fußballkarten. Generell ist das Potenzial für Sammelkartensysteme riesig und wir freuen uns auf alles, was noch kommt!